Direktzugang in der Physiotherapie: Sind wir bereit?
Auf einen Blick: Direktzugang funktioniert international, aber Deutschland fehlen die strukturellen Voraussetzungen. Die Blankoverordnung ist der Testlauf – was wir daraus machen, entscheidet über die nächsten Schritte.
Ein Patient ruft an. Seit drei Tagen schmerzt seine Schulter, die Bewegung ist eingeschränkt, ein Trauma gab es nicht. Er möchte heute noch einen Termin. In den Niederlanden wäre das machbar: Untersuchung, Screening, Behandlungsbeginn am selben Tag.
In Deutschland läuft es anders. Der Patient braucht erst einen Termin beim Hausarzt, Wartezeit drei bis fünf Tage. Der Hausarzt schreibt ein Rezept, dann folgt die Suche nach einem Physiotherapie-Termin, noch mal ein bis zwei Wochen. Bis die Behandlung beginnt, vergehen oft zwei bis drei Wochen. Für ein Problem, das in vielen Fällen gar keinen Arzt gebraucht hätte.
Direktzugang, also der Gang zum Physiotherapeuten ohne vorherige ärztliche Verordnung, ist international längst Standard. Bei uns wird seit Jahren darüber diskutiert. Die Blankoverordnung, seit November 2024 für Schulterdiagnosen verfügbar, ist ein Schritt in Richtung mehr Autonomie. Aber sie ist etwas anderes als Direktzugang. Sie gibt uns Freiheit bei der Behandlung, nicht bei der Diagnose. Und die Frage, ob wir als Berufsstand bereit wären für echte diagnostische Verantwortung, wird selten ehrlich gestellt.
Was unterscheidet Blankoverordnung und Direktzugang?
Der Unterschied ist den meisten Kollegen klar. Trotzdem lohnt es sich, ihn genau zu benennen, weil er zeigt, worum es beim Direktzugang eigentlich geht.
Bei der Blankoverordnung stellt der Arzt weiterhin die Diagnose und das Rezept aus. Wir entscheiden dann über Heilmittel, Frequenz und Dauer. Die diagnostische Verantwortung bleibt beim Arzt. Wir bekommen therapeutische Freiheit innerhalb eines vorgegebenen Rahmens.
Beim Direktzugang wäre das anders. Der Patient kommt ohne Arztkontakt. Wir übernehmen die volle diagnostische Verantwortung: Red Flags erkennen, differentialdiagnostisch denken, entscheiden, ob physiotherapeutische Behandlung überhaupt indiziert ist oder ob der Patient zum Arzt muss. Wenn wir einen Tumor übersehen, eine Fraktur, eine viszerale Ursache, dann liegt das an uns. Das ist der eigentliche Unterschied: nicht mehr Freiheit, sondern mehr Verantwortung.
Wie machen es andere Länder?
In den Niederlanden, Australien, Großbritannien und den USA ist Direktzugang seit Jahren oder Jahrzehnten etabliert. Die Modelle unterscheiden sich im Detail: zeitliche Begrenzungen in den USA, Integration in Hausarztpraxen in Großbritannien, Triage-Funktion in australischen Notaufnahmen. Auch Dänemark bewegt sich, seit 2025 laufen dort große Pilotprojekte.
Der gemeinsame Nenner ist überall derselbe: akademische Ausbildung als formaler Standard und strukturierte Screening-Protokolle, die flächendeckend gelehrt und angewendet werden. In den Niederlanden etwa durchlaufen Patienten zu Beginn ein standardisiertes Screening von etwa zehn Minuten, um ernsthafte Pathologien auszuschließen. Bei Verdacht auf Red Flags erfolgt eine Rücküberweisung.
Wichtig dabei: Es geht nicht um den akademischen Titel an sich, sondern um das, was er in diesen Ländern beinhaltet. Standardisierte Inhalte in Differentialdiagnostik und klinischem Reasoning, die alle Absolventen durchlaufen.
Was sagt die Evidenz?
Die Forschungslage ist umfangreich und überwiegend positiv. Allerdings stammt sie fast ausschließlich aus Ländern mit akademischer Grundausbildung und strukturierten Screening-Protokollen. Ob sich die Ergebnisse auf Deutschland übertragen lassen, ist nicht ausgemacht.
Sicherheit: Systematische Reviews zeigen kein erhöhtes Risiko für übersehene ernsthafte Erkrankungen durch Physiotherapeuten im Direktzugang. Keine unerwünschten Ereignisse, keine Sicherheitsrisiken im Vergleich zur ärztlichen Überweisung. Physiotherapeuten erkennen Red Flags zuverlässig und überweisen bei Bedarf.
Effektivität: Patienten im Direktzugang benötigen im Schnitt weniger Behandlungseinheiten bis zur Genesung. Es gibt Hinweise auf kürzere Arbeitsunfähigkeitszeiten, weil die Behandlung schneller beginnt. Die funktionellen Ergebnisse sind gleichwertig oder besser als beim Arzt-zuerst-Modell.
Kosten: Der Direktzugang ist kosteneffizienter für das Gesundheitssystem. Einsparungen entstehen durch den Wegfall des ersten Arztbesuchs, weniger verschriebene Medikamente und weniger Bildgebung. In Ländern mit Direktzugang fordern Physiotherapeuten seltener Bildgebung an als Hausärzte, und wenn, dann leitlinienkonformer. Eine US-Studie zeigte Einsparungen von durchschnittlich 82 Dollar pro Episode.
Wo stehen wir in Deutschland?
In Deutschland sind schätzungsweise 70 bis 80 Prozent der Physiotherapeuten berufsschulisch ausgebildet. Das allein sagt wenig. Es gibt hervorragende Schulen und weniger gute. Es gibt Kollegen mit Ausbildung, die exzellent differentialdiagnostisch denken, und Kollegen mit Bachelor, die es nicht tun. Der Abschluss allein ist kein Qualitätsindikator.
Was wir allerdings wissen: Es gibt keinen einheitlichen Standard für Differentialdiagnostik und Red-Flag-Screening in der Grundausbildung. Manche Schulen lehren es ausführlich, andere kaum. Die Berufsverbände selbst sagen, dass die aktuelle Ausbildung nicht ausreicht, um flächendeckend diagnostische Verantwortung zu übernehmen.
Gleichzeitig zeigen Umfragen regelmäßig eine hohe Selbsteinschätzung: Die meisten befragten Therapeuten trauen sich eine korrekte Erstdiagnose zu. Diese Diskrepanz zwischen Selbstbild und struktureller Realität ist das eigentliche Problem. Nicht mangelndes Können im Einzelfall, sondern fehlende Verlässlichkeit im System.
Die Akademisierung wird oft als Lösung präsentiert. Aber ein Bachelor garantiert nicht bessere Differentialdiagnostik, er garantiert nur einen anderen Rahmen. Was wir brauchen, ist nicht ein bestimmter Titel, sondern strukturierte Kompetenz: standardisierte Screening-Protokolle, einheitliche Ausbildungsinhalte in klinischem Reasoning. Das ließe sich in beiden Systemen umsetzen, wenn der Wille da wäre.
Was passiert gerade mit der Blankoverordnung?
Seit November 2024 gibt es die Blankoverordnung für die Diagnosegruppe EX, also Erkrankungen der Extremitäten. Konkret geht es um 114 Diagnosen, vor allem im Schulterbereich. Ein Jahr später lässt sich eine erste Bilanz ziehen.
So funktioniert das System: Der Arzt stellt die Diagnose und verordnet Physiotherapie als Blankoverordnung. Wir entscheiden dann über das konkrete Heilmittel (Manuelle Therapie, KG, KGG), die Frequenz und die Gesamtdauer. Die Verordnung gilt 16 Wochen. Die Vergütung ist an ein Ampelsystem gekoppelt. In der grünen Phase gibt es die volle Vergütung. In der roten Phase, also wenn mehr Einheiten erbracht werden als der Durchschnitt vorsieht, wird ein Abschlag von 9 Prozent fällig.
Was funktioniert: Die therapeutische Freiheit wird genutzt und sie macht einen Unterschied. Praxen passen Behandlungen flexibel an, starten mit Manueller Therapie in der akuten Phase und wechseln zu aktiver Krankengymnastik, alles ohne neuen Arztbesuch. Erstmals werden Diagnostik und Berichte als eigene Positionen vergütet. Das ist eine Verbesserung gegenüber dem alten System, in dem jede Änderung einen neuen Arzttermin erforderte.
Was noch nicht rund läuft: Die Ergotherapie hat das System früher eingeführt. Erste Erfahrungen von dort deuten darauf hin, dass viele Therapeuten die rote Phase meiden. Das ist nachvollziehbar, denn niemand arbeitet gern mit Vergütungsabschlägen. Aber es wirft die Frage auf, ob komplexe Fälle wie eine Frozen Shoulder die Behandlungsdauer bekommen, die sie brauchen, oder ob das Budget die Entscheidung beeinflusst.
Auch die Rollenverteilung zwischen Ärzten und Therapeuten ist noch nicht eingespielt. Die Verordnungen sind für Ärzte extrabudgetär, belasten also nicht ihr Heilmittelbudget. Das senkt die Hemmschwelle, hat aber eine Kehrseite: Es gibt Berichte, dass schwierige Fälle gezielt in die Blankoverordnung geschoben werden, während das wirtschaftliche Risiko bei uns landet.
Fazit
Direktzugang ist international ein Erfolgsmodell. Die Evidenz für Sicherheit und Effektivität ist eindeutig, zumindest in Ländern mit entsprechenden Voraussetzungen. Patienten profitieren, das Gesundheitssystem spart Kosten, und Physiotherapeuten arbeiten auf Augenhöhe mit anderen Gesundheitsberufen.
In Deutschland fehlen die strukturellen Voraussetzungen. Das liegt nicht daran, dass wir schlechter wären. Es liegt an einer heterogenen Ausbildungslandschaft ohne einheitlichen Standard für diagnostische Kompetenz. Und an einem System, das gerade erst lernt, therapeutische Autonomie zu gestalten.
Die Blankoverordnung ist ein Testlauf. Derzeit wird sie wissenschaftlich evaluiert, die Hochschulen Bochum und Trier sammeln gemeinsam mit den Berufsverbänden Daten. Erste Ergebnisse werden Ende 2025 erwartet. Was dabei herauskommt, entscheidet über die nächsten Schritte. Konkrete Pläne für eine Ausweitung auf weitere Diagnosegruppen gibt es noch nicht, eine Ausweitung ist frühestens 2027 realistisch.
Das heißt: Was wir jetzt tun, landet in der Evaluation. Wenn die Daten zeigen, dass wir die neue Autonomie nutzen, um klinisch sinnvolle Entscheidungen zu treffen, stärkt das die Position für eine Ausweitung. Wenn sie zeigen, dass wir vor allem das Ampelsystem optimieren, haben wir eine Chance vertan.
Die Frage ist nicht, ob Direktzugang irgendwann kommt. International ist er längst Realität, und der Druck auf das deutsche System wird wachsen. Die Frage ist, ob wir vorbereitet sein werden. Mit den Kompetenzen, den Strukturen und der Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Nicht nur die angenehme therapeutische Freiheit. Sondern auch die unbequemen Konsequenzen, wenn etwas schiefgeht.
-
Das ist politisch noch offen. Der Koalitionsvertrag 2021 sah Modellprojekte vor, die Umsetzung stockt. Der Druck durch die internationale Entwicklung und den Fachkräftemangel wächst allerdings.
-
Die internationale Evidenz zeigt: Nein. Physiotherapeuten erkennen Red Flags zuverlässig und überweisen bei Bedarf. Voraussetzung ist allerdings eine entsprechende Ausbildung in Differentialdiagnostik, und die ist in Deutschland nicht einheitlich gewährleistet.
-
Eine Zusatzqualifikation, die erlaubt, Patienten privat ohne ärztliche Verordnung zu behandeln. Er ist umstritten, weil er das eigentliche Problem umgeht: die fehlende strukturelle Anerkennung diagnostischer Kompetenz im Berufsbild selbst.
Über den Autor
Dimitrios ist Physiotherapeut in Düsseldorf mit Fokus auf muskuloskelettale Beschwerden. Er behandelt Privatpatienten und Selbstzahler mit Hausbesuchen und teilt sein Wissen auf Instagram (@dimiphysio) und diesem Blog.
Quellen
Leemrijse CJ, Swinkels ICS, Veenhof C. Direct access to physical therapy in the Netherlands: results from the first year in community-based physical therapy. Phys Ther. 2008;88(8):936-946. doi:10.2522/ptj.20070308
Piscitelli D, Furmanek MP, Meroni R, De Caro W, Pellicciari L. Direct access in physical therapy: a systematic review. Clin Ter. 2018;169(5):e249-e260. doi:10.7417/CT.2018.2087
Ojha HA, Snyder RS, Davenport TE. Direct access compared with referred physical therapy episodes of care: a systematic review. Phys Ther. 2014;94(1):14-30. doi:10.2522/ptj.20130096
Pendergast J, Kliethermes SA, Freburger JK, Duffy PA. A comparison of health care use for physician-referred and self-referred episodes of outpatient physical therapy. Health Serv Res. 2012;47(2):633-654. doi:10.1111/j.1475-6773.2011.01324.x
GKV-Spitzenverband. Blankoverordnung ab November auch in der Physiotherapie [Internet]. Berlin: GKV-Spitzenverband; 2024 [zitiert 14. Dez. 2025]. Verfügbar unter: https://www.gkv-spitzenverband.de/gkv_spitzenverband/presse/pressemitteilungen_und_statements/pressemitteilung_1884544.jsp
Hochschule Bochum. Physiotherapieverbände starten Evaluation der Blankoverordnung [Internet]. Bochum: Hochschule Bochum; 2025 [zitiert 14. Dez. 2025]. Verfügbar unter: https://www.hochschule-bochum.de/aktuelles/n/physiotherapieverbaende-starten-evaluation-der-blankoverordnung/