Patientenautonomie vs. Paternalismus: Wer entscheidet in der Therapie?


Auf einen Blick: Shared Decision Making gilt als Goldstandard, aber die Realität ist komplizierter. Manchmal brauchen Patienten klare Führung, manchmal überfordert zu viel Autonomie. Und manchmal müssen Therapeuten Grenzen setzen, auch gegen den Patientenwunsch. Einfache Antworten funktionieren hier nicht.


Stell dir einen Patienten vor, der seit Jahren mit Rückenschmerzen kämpft. Er hat einiges ausprobiert, sagt er. Massage verschafft ihm Linderung, Übungen lehnt er ab. Die Forschung ist in diesem Fall eindeutig: Aktive Therapie ist bei chronischen Rückenschmerzen passiven Maßnahmen überlegen. Aber dein Patient will genau das Gegenteil.

Was tust du?

Respektierst du seinen Wunsch, auch wenn du weißt, dass es langfristig nicht hilft? Oder setzt du dich darüber hinweg, weil du es besser weißt? Und wenn ja: Wer gibt dir das Recht dazu?

Diese Fragen beschäftigen die Physiotherapie schon lange. Und je länger man darüber nachdenkt, desto weniger sicher wird man, dass es eine richtige Antwort gibt.


Was bedeutet Paternalismus in der Physiotherapie?

Das Wort klingt negativ, nach Bevormundung, nach "der Therapeut weiß es besser". Aber so einfach ist es nicht.

In der Medizinethik unterscheidet man zwischen hartem und weichem Paternalismus. Harter Paternalismus bedeutet, den Willen eines entscheidungsfähigen Patienten zu übergehen. Das gilt heute als ethisch inakzeptabel. Weicher Paternalismus hingegen meint: eingreifen, wenn der Patient nicht voll urteilsfähig ist, etwa durch Angst, Fehlinformation oder akute Überforderung.[1]

Das Problem: Die Grenze zwischen beiden ist fließend. Wann ist jemand "nicht voll urteilsfähig"? Wer entscheidet das? Und ist ein Patient, der aus Angst Bewegung vermeidet, wirklich nicht entscheidungsfähig, oder hat er einfach andere Prioritäten?

Wie wirksam ist Shared Decision Making wirklich?

Shared Decision Making, also das gemeinsame Entscheiden von Therapeut und Patient, gilt als Goldstandard moderner Therapie. Die Idee: Der Therapeut bringt Fachwissen ein, der Patient bringt sein Leben, seine Werte, seine Präferenzen ein. Zusammen findet man den besten Weg.[^2]

Klingt gut. Aber was zeigt die Evidenz wirklich?

Die Studienlage ist differenzierter, als viele annehmen. Systematische Reviews zeigen, dass SDM die psychologischen Outcomes verbessert: Patienten sind zufriedener, fühlen sich selbstwirksamer, vertrauen ihrem Therapeuten mehr. Und, besonders relevant, sie halten sich eher an Empfehlungen. Die Therapietreue steigt, wenn Patienten den Plan mitgestalten.[3][4]

Was die Reviews allerdings nicht konsistent zeigen: dass Schmerzen oder funktionelle Einschränkungen durch SDM schneller besser werden als durch direktive Ansätze. Der systematische Review von Tousignant-Laflamme aus 2017 fand bei muskuloskelettalen Beschwerden keinen signifikanten Unterschied in Schmerz- oder Funktionsoutcomes zwischen SDM und konventionellen Ansätzen.[3]

Das ist kein Argument gegen SDM. Aber es ist ein Argument gegen die vereinfachte Erzählung "SDM führt automatisch zu besseren Ergebnissen". Der Haupteffekt liegt woanders: bei Zufriedenheit, Vertrauen und langfristiger Therapietreue. Das ist viel wert, aber es ist nicht dasselbe wie schnellere Schmerzreduktion.

Wann ist Führung gerechtfertigt?

Es gibt Situationen, in denen Autonomie an ihre Grenzen stößt. Nicht weil der Patient es nicht verdient hätte, selbst zu entscheiden, sondern weil die Umstände es erfordern.

Akute Sicherheit. Nach einer frischen Bandplastik oder bei einer instabilen Fraktur ist die Autonomie durch Sicherheitsaspekte limitiert. Hier ist direktive Führung nicht bevormundend, sondern notwendig. Der Patient kann sich natürlich über ärztliche Empfehlungen hinwegsetzen und voll belasten, aber er trägt dann die Konsequenzen. Die Aufgabe des Therapeuten ist es, diese Konsequenzen klar zu benennen.

Falsche Vorstellungen. Wenn ein Patient glaubt, sein Rücken sei "kaputt" und jede Bewegung gefährlich, wäre es unethisch, diese Vorstellung einfach zu "respektieren". Die Überzeugung selbst ist Teil des Problems. Hier braucht es Aufklärung, auch wenn der Patient sie zunächst nicht hören will.

Emotionale Überforderung. In akuten Schmerzkrisen regredieren Menschen. Sie wollen keine Optionen abwägen, sie wollen Orientierung. "Sagen Sie mir einfach, was ich tun soll." In solchen Momenten ist Führung keine Bevormundung, sondern Entlastung.[1]

Professionelle Verantwortung. Und hier wird es für Therapeuten konkret: Wenn ein Patient ausschließlich passive Massage bei chronischen Rückenschmerzen fordert, Woche für Woche, ohne Progression, stellt sich die Frage nach der eigenen fachlichen Grenze.

Wann darf ich als Therapeut ablehnen?

Zurück zum Patienten vom Anfang. Er will Massage. Nur Massage. Muss ein Therapeut das machen?

Die kurze Antwort: Nein.

Physiotherapeuten haben, anders als Ärzte im Notfall, keine generelle Behandlungspflicht. Wer keine vertragliche Bindung eingegangen ist, kann eine Behandlung grundsätzlich ablehnen, solange keine Diskriminierung vorliegt.

Die Berufsordnungen der Bundesländer verpflichten Physiotherapeuten zudem zur gewissenhaften Berufsausübung. Gewissenhaft heißt: nach bestem fachlichen Wissen. Wenn bekannt ist, dass passive Therapie bei chronischen Rückenschmerzen der Evidenz widerspricht, dann ist es nicht gewissenhaft, sie als alleinige Maßnahme anzubieten, nur weil der Patient es will.

Das bedeutet nicht, dass der Patientenwunsch ignoriert werden soll. Es bedeutet, dass Therapeuten eine professionelle Grenze haben und diese auch kommunizieren dürfen. Sie können erklären, warum sie anders vorgehen möchten. Sie können Kompromisse suchen. Aber sie müssen nicht alles mitmachen.

In der Praxis könnte das so aussehen: Der Therapeut signalisiert Verständnis dafür, warum Massage dem Patienten guttut. Er erklärt, warum er glaubt, dass sie allein nicht reicht. Er bietet einen Kompromiss an: manuelle Techniken als Teil eines aktiven Konzepts. Und wenn der Patient das ablehnt? Dann ist das sein Recht. Aber eine Therapie anzubieten, die fachlich nicht sinnvoll ist oder langfristig nicht zum Ziel führt, ist keine Option.

Das ist keine Bevormundung. Das ist professionelle Integrität.

Wann schadet zu viel Autonomie?

Hier wird es unbequem. Denn die Frage impliziert, dass Autonomie nicht immer gut ist, und das widerspricht dem Zeitgeist.

Kritische Stimmen aus der Medizinethik sprechen von der "Tyrannei der Autonomie". Kranke Menschen haben oft reduzierte kognitive Kapazitäten. Ihnen komplexe Entscheidungen aufzubürden, kann Stress auslösen: Decisional Conflict, wie es in der Forschung heißt. Studien aus der Onkologie zeigen, dass manche Patienten sich durch zu viele Optionen überfordert fühlen, nicht befreit.[5]

Bei chronischen Schmerzpatienten gibt es ein spezifisches Problem. "Machen Sie nur, was sich gut anfühlt" klingt nach Respekt vor Autonomie. Aber bei jemandem mit ausgeprägtem Vermeidungsverhalten kann genau das die Chronifizierung verstärken. Hier braucht es manchmal eine graduierte Exposition: sanfter Druck in Richtung Bewegung, auch wenn es initial unangenehm ist.

Ist das Paternalismus? Ja. Ist es falsch? Nicht unbedingt.

Was tun, wenn Patienten nicht mitentscheiden wollen?

"Sie sind doch der Experte. Sagen Sie mir einfach, was ich tun soll."

Diesen Satz hören Therapeuten häufig. Aber nicht jeder Patient, der so spricht, ist gleich. Es gibt einen wichtigen Unterschied.

Auf der einen Seite: Patienten, die durch ihre Situation emotional oder kognitiv überfordert sind. Die Erkrankung, der Schmerz, die Unsicherheit nehmen so viel Raum ein, dass für Entscheidungen keine Kapazität bleibt. Hier ist der Wunsch nach Führung nachvollziehbar. In solchen Fällen ist es angemessen, klare Empfehlungen zu geben und den Patienten zu entlasten.[1]

Auf der anderen Seite: Patienten, die durchaus in der Lage wären mitzuwirken, aber die Eigenverantwortung lieber abgeben möchten. Beschwerden sollen 'einfach wegmassiert' werden, ohne dass irgendetwas am Alltag geändert wird.

Das Problem mit der "Fix me"-Haltung: Ohne Feedback und Mitarbeit des Patienten ist gute Therapie kaum möglich. Therapeuten brauchen Rückmeldung: Was hat geholfen? Was hat sich verändert? Wie war es nach der letzten Behandlung? Wenn diese Informationen ausbleiben, wird Therapie zum Rätselraten. Und oft verfallen Therapeuten dann in routinierte Muster, in Behandlungen, die sie quasi automatisch durchführen können, ohne auf individuelles Feedback angewiesen zu sein. Das ist verständlich, aber es ist nicht das, was gute Therapie ausmacht.

Ein möglicher Ansatz: Freundlich, aber klar kommunizieren, dass Physiotherapie Zusammenarbeit braucht. Nicht als Vorwurf, sondern als Erklärung. "Ich kann Ihnen am besten helfen, wenn Sie mir sagen, wie es Ihnen zwischen den Terminen geht. Sonst arbeite ich im Blindflug." Das ist keine Bestrafung des Patienten. Das ist ehrliche Kommunikation über die Voraussetzungen guter Therapie.

Praktizieren Therapeuten wirklich Shared Decision Making?

Qualitative Forschung zeigt eine interessante Diskrepanz: Viele Therapeuten glauben, sie praktizieren SDM, tun es aber nicht wirklich.

Eine Studie von 2025 mit dem Titel "The Dance With Power" beschreibt das Phänomen: Therapeuten haben Schwierigkeiten, Macht abzugeben. Was oft praktiziert wird, ist eine "überredende Kommunikation". Der Patient wird durch geschickte Gesprächsführung zu der Entscheidung gebracht, die der Therapeut für richtig hält. SDM als Fassade.[6]

Das klingt manipulativ. Aber ist es das wirklich? Oder ist es die unvermeidliche Konsequenz aus einem Wissensgefälle? Der Therapeut weiß Dinge, die der Patient nicht weiß. Ist es nicht sogar seine Pflicht, dieses Wissen einzusetzen?

Rechtlich ist die Sache klar: Therapeuten sind verpflichtet, nach bestem fachlichen Wissen zu handeln. Das bedeutet nicht, dass sie dem Patienten die Entscheidung abnehmen. Es bedeutet, dass sie ihm eine fundierte Empfehlung schulden. Echtes SDM heißt dann: Empfehlung geben, Alternativen aufzeigen, gemeinsam entscheiden.

Interessanterweise zeigt die Forschung auch, dass Patienten oft zufrieden sind, obwohl sie faktisch wenig entschieden haben. Was zählt, ist das Gefühl, gehört zu werden, nicht unbedingt die tatsächliche Entscheidungsmacht.[^7] Das ist beruhigend und beunruhigend zugleich.

Ein Fallbeispiel: Wie könnte es laufen?

Der Patient vom Anfang. Chronische Rückenschmerzen, will nur Massage, lehnt Übungen ab. Wie könnte ein strukturiertes Vorgehen aussehen?

Zuhören. Verstehen, warum er Massage will und Übungen ablehnt. Oft steckt dahinter eine Geschichte: schlechte Erfahrungen, Angst, Überforderung. Manchmal auch schlicht: Er hat noch nie erlebt, dass Übungen ihm geholfen haben.

Aufklären. Erklären, was die Forschung sagt, ohne zu belehren. Nicht "Sie müssen", sondern "Die Evidenz zeigt". Den Patienten nicht überreden, sondern informieren.

Verhandeln. Einen Kompromiss anbieten, der für beide funktioniert. Vielleicht manuelle Techniken am Anfang, dann schrittweise mehr Aktivität. Vielleicht eine Testphase: Vier Wochen, dann gemeinsam bewerten.

Grenzen setzen. Wenn er bei reiner Massage bleibt und das fachlich nicht vertretbar ist, wird das kommuniziert. Respektvoll, aber klar. "Ich verstehe Ihren Wunsch. Aber ich kann nicht guten Gewissens eine Therapie machen, von der ich weiß, dass sie Ihnen langfristig nicht hilft."

Das Ergebnis bleibt offen. Vielleicht findet der Patient die Kombination gut. Vielleicht sucht er sich einen anderen Therapeuten. Beides ist legitim. Was nicht in Ordnung wäre: die eigene fachliche Überzeugung aufzugeben, nur um den Patienten zu halten.

Die Spannung bleibt

Die Spannung zwischen Autonomie und Führung gehört zum therapeutischen Beruf. Jede Behandlung, jeder Patient stellt die Frage neu: Wie viel Führung braucht dieser Mensch? Wie viel Autonomie verträgt er? Wo liegen die professionellen Grenzen?

Beide Extreme sind problematisch. Der Therapeut, der alles vorgibt, produziert abhängige Patienten. Der Therapeut, der alles offenlässt, überfordert und frustriert.

Die meisten bewegen sich irgendwo dazwischen. Und das ist genau richtig. Nicht weil die Mitte immer stimmt, sondern weil die richtige Position von Fall zu Fall verschieden ist. Am Ende entscheidet jeder Therapeut selbst, wo die eigene Linie liegt. Und diese Linie darf, muss vielleicht sogar, von Patient zu Patient unterschiedlich sein.

Wie sieht das in deiner Praxis aus? Wo ziehst du die Linie?


Häufig gestellte Fragen

  • Shared Decision Making ist ein Prozess, bei dem Therapeut und Patient gemeinsam Entscheidungen treffen. Der Therapeut bringt Fachwissen über Diagnose und Behandlungsoptionen ein, der Patient sein Wissen über sein Leben, seine Werte und Präferenzen. Das Ziel ist eine Entscheidung, die beide tragen können.[^2]

  • Ja. Physiotherapeuten haben, anders als Ärzte im Notfall, keine generelle Behandlungspflicht. Wer keine vertragliche Bindung eingegangen ist, kann eine Behandlung grundsätzlich ablehnen, solange keine Diskriminierung vorliegt. Zudem verpflichten die Berufsordnungen zur gewissenhaften Berufsausübung. Eine Therapie anzubieten, die der eigenen fachlichen Überzeugung widerspricht, wäre damit nicht vereinbar.

  • Zuerst unterscheiden: Ist der Patient durch seine Situation überfordert und braucht deshalb Orientierung? Oder möchte er die Eigenverantwortung abgeben, obwohl er durchaus in der Lage wäre mitzuwirken? Im ersten Fall: Führung geben, entlasten. Im zweiten Fall: Freundlich, aber klar kommunizieren, dass Physiotherapie Zusammenarbeit braucht. Ohne Feedback und Mitarbeit ist gute Therapie kaum möglich.

  • Ja. Patienten haben das Recht, über ihren Körper zu entscheiden. Allerdings sollten sie verstehen, warum der Therapeut etwas empfiehlt. Nachfragen, wenn etwas nicht einleuchtet. Eine gute therapeutische Beziehung verträgt Widerspruch und findet meistens einen Kompromiss.

Dimitrios Rallis

Dimitrios ist Physiotherapeut in Düsseldorf mit Fokus auf muskuloskelettale Beschwerden. Er behandelt Privatpatienten und Selbstzahler mit Hausbesuchen und teilt sein Wissen auf Instagram (@dimiphysio) und diesem Blog.

Quellen

Quellen

1. Varkey B. Principles of Clinical Ethics and Their Application to Practice. Med Princ Pract. 2021;30(2):111-127. doi:10.1159/000509119

2. Hoffmann T, Del Mar C, Saragiotto B,";"; A, Machado G. Shared decision making and physical therapy: What, when, how, and why? Braz J Phys Ther. 2022;26(1):100382. doi:10.1016/j.bjpt.2021.100382

3. Tousignant-Laflamme Y, Christopher S, Clewley D, Ledbetter L, Cook C, Cook CE. Does shared decision making results in better health related outcomes for individuals with painful musculoskeletal disorders? A systematic review. J Man Manip Ther. 2017;25(3):144-154. doi:10.1080/10669817.2017.1323607

4. Wilson SR, Strub P, Buist AS, et al. Shared treatment decision making improves adherence and outcomes in poorly controlled asthma. Am J Respir Crit Care Med. 2010;181(6):566-577. doi:10.1164/rccm.200906-0907OC

5. Engelhardt EG, Pieterse AH, van Duijn-Bakker N, et al. Potential Adverse Outcomes of Shared Decision Making about Palliative Cancer Treatment. Med Decis Making. 2024;44(1):95-106. doi:10.1177/0272989X231208448

6. Mudge S, Stretton C, Kayes N. Person-Centredness and Paternalism: The Dance With Power. Musculoskelet Care. 2025;23(1):e70032. doi:10.1002/msc.70032

7. Afolabi HA, Salihu SA, Olutayo ML, et al. The Practice of Shared Decision-Making Among Physiotherapists and Patients. J Multidiscip Healthc. 2023;16:2681-2693. doi:10.2147/JMDH.S423445

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