Kontexteffekte: Sollten wir sie bewusst nutzen?


Auf einen Blick: 80 bis 88 Prozent Kontexteffekt – solche Zahlen kursieren in Fortbildungen. Die methodisch saubere Forschung zeigt ein anderes Bild: Bei chronischen Rückenschmerzen gehen etwa 18% der Verbesserung auf echte Placebo-Effekte zurück. Fast die Hälfte passiert auch ohne jede Behandlung. Und bewusstes "Kontext-Boosting"? Funktioniert in Studien nicht. Gute Therapie braucht keine Tricks.


"80 Prozent sind Kontext. Die Technik ist fast egal."

Den Satz hört man auf Fortbildungen. Er klingt nach Geheimwissen, nach einem Hebel, den man nur richtig bedienen muss. Und er wirft Fragen auf: Wenn das stimmt – was machen wir dann eigentlich den ganzen Tag? Sind wir Therapeuten oder Erwartungsmanager?

Bevor wir über Ethik sprechen, lohnt sich ein genauer Blick auf die Zahlen. Denn die Realität ist weniger dramatisch – und weniger ethisch heikel – als die Schlagzeilen suggerieren.


Was sind Kontexteffekte überhaupt?

Kontexteffekte umfassen alles, was neben der eigentlichen Intervention wirkt: Erwartungen des Patienten, therapeutische Beziehung, Setting, Rituale der Behandlung, verbale und nonverbale Kommunikation.

Der Begriff ist breiter als "Placebo". Er beschreibt nicht nur Scheinbehandlungen, sondern alles, was den Rahmen einer echten Behandlung ausmacht. Dieselbe Mobilisation kann unterschiedlich wirken, je nachdem wie sie angekündigt, durchgeführt und nachbesprochen wird.

Soweit die Theorie. Die Frage ist: Wie groß ist dieser Effekt tatsächlich?

Die verlockende Idee

Die Vorstellung ist attraktiv: Wenn wir den Kontext optimieren – selbstbewusster auftreten, Erwartungen gezielt steuern, das Setting verbessern – dann verstärken wir den Behandlungseffekt. Sozusagen ein Booster, den wir kostenlos dazubekommen.

Diese Idee hat in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit bekommen. Fortbildungen werben damit, Fachartikel werden geschrieben, und manche Therapeuten sehen darin den Schlüssel zu besseren Ergebnissen.

Aber stimmt das?

Was zeigt die Evidenz wirklich?

Die Zahlen, die in Fortbildungen kursieren, klingen beeindruckend. Eine vielzitierte Studie von Ezzatvar et al. (2024) errechnete, dass bei Mobilisation 88% des Behandlungseffekts auf kontextuelle Faktoren zurückgehen.

Das Problem: Diese Berechnung basiert auf dem Vergleich von Behandlung versus Placebo – ohne Kontrollgruppe ohne jede Intervention. Was dabei als "kontextueller Effekt" erscheint, enthält auch den natürlichen Krankheitsverlauf. Die Autoren räumten nach kritischen Kommentaren selbst ein, dass ihre Methode nicht der Goldstandard sei.

Was passiert, wenn man es methodisch sauberer macht? Pedersen et al. (2024) analysierten ausschließlich Drei-Arm-Studien bei chronischen Rückenschmerzen – also Studien, die Behandlung, Placebo und keine Behandlung verglichen. Die Ergebnisse für Schmerzintensität:

Von der gesamten Verbesserung entfielen 33% auf den spezifischen Behandlungseffekt, 18% auf echte Placebo-Effekte und 49% auf den natürlichen Verlauf – also auf Verbesserungen, die auch ohne jede Intervention eingetreten wären.

Fast die Hälfte der Verbesserung passiert von allein. Der echte Placebo-Anteil liegt bei unter einem Fünftel. Die Evidenzqualität ist dabei niedrig bis sehr niedrig – die wahren Werte könnten also durchaus anders liegen. Aber die Größenordnung ist eine andere als die 80-88%, die oft zitiert werden.

Noch ernüchternder wird es bei der Frage, ob sich diese Effekte gezielt verstärken lassen. Saueressig et al. (2024) untersuchten genau das: Was passiert, wenn dieselbe Behandlung einmal mit optimiertem Kontext und einmal mit Standardkontext durchgeführt wird? Die Differenz bei Schmerz: statistisch nicht signifikant. Die Konfidenzintervalle schlossen sowohl relevante Verbesserungen als auch Verschlechterungen ein.

Die Idee, dass wir durch bewusste Kontextoptimierung klinisch bedeutsame Zusatzeffekte erzielen können, wird von der aktuellen Evidenz nicht gestützt.

Was ist mit Open-Label Placebo?

Ein Sonderfall verdient Erwähnung: Open-Label Placebo, also Placebos, die offen als solche deklariert werden. Die Idee ist ethisch elegant – keine Täuschung, aber trotzdem Wirkung.

Die Studienlage dazu bei muskuloskelettalen Beschwerden ist mittlerweile überschaubar gut untersucht. Die Ergebnisse: kleine bis sehr kleine Effekte auf subjektive Outcomes wie Schmerzwahrnehmung, keine Effekte auf objektive Messungen wie Bewegungsumfang oder Kraft. Und: keine Langzeiteffekte. Nach drei Jahren zeigt sich kein Unterschied mehr zur Kontrollgruppe.

Für die Praxis heißt das: Open-Label Placebo ist kein Werkzeug, das unsere Therapie verbessert. Es ist ein interessantes Forschungsphänomen.

Die eigentliche ethische Frage

Wenn die Effekte klein sind und sich nicht gezielt verstärken lassen – wo liegt dann das ethische Problem?

Die ursprüngliche Frage lautete: Darf ich als Therapeut Kontexteffekte bewusst nutzen, auch wenn der Patient nicht alles weiß? Die Antwort ist weniger kompliziert als gedacht, weil die Prämisse wackelt.

Es geht nicht darum, ob wir Kontexteffekte "nutzen dürfen". Wir können sie gar nicht nicht nutzen. Jede Behandlung findet in einem Kontext statt. Die Frage ist nur, ob wir diesen Kontext bewusst manipulieren sollten, um einen Zusatzeffekt zu erzielen.

Und hier sagt die Evidenz: Der Zusatzeffekt ist wahrscheinlich nicht da. Bewusstes Boosting funktioniert nicht – oder zumindest nicht messbar.

Was bleibt, ist eine einfachere ethische Frage: Wie kommunizieren wir mit unseren Patienten? Und hier gibt es einen klaren Kompass: ehrlich, respektvoll, ohne Übertreibung. Nicht weil Manipulation nicht funktionieren würde, sondern weil sie nicht nötig ist – und weil Vertrauen auf Ehrlichkeit basiert.

Was bleibt für die Praxis?

Heißt das, Kontext ist egal? Nein.

Es heißt, dass wir ihn nicht als Stellschraube betrachten sollten, an der wir drehen, um Ergebnisse zu optimieren. Sondern als Teil guter therapeutischer Arbeit.

Eine klare, verständliche Erklärung ist kein Trick. Sie ist professionelle Kommunikation. Empathie ist keine Manipulationstechnik. Sie ist menschlicher Umgang. Und die Fähigkeit, Vertrauen aufzubauen, ist keine strategische Kompetenz. Sie ist Grundlage jeder therapeutischen Beziehung.

Der Unterschied liegt in der Intention. Wer denkt "Ich muss jetzt besonders warm wirken, damit der Placebo-Effekt greift", instrumentalisiert die Beziehung. Wer einfach gute Arbeit macht – zuhört, erklärt, gemeinsam entscheidet – tut das, was Therapie ausmacht.

Interessanterweise könnte das Gegenteil von Kontext-Boosting wichtiger sein: Nocebo vermeiden. Negative Erwartungen schaden nachweislich. Worte wie "Das wird wehtun" oder "Ihre Wirbelsäule ist verschlissen" können Schmerz verstärken. Hier haben wir tatsächlich Einfluss – durch das, was wir nicht sagen.

Fazit

Die Debatte um Kontexteffekte hat mehr Hype als Substanz.

Ja, Kontext beeinflusst Therapie-Outcomes. Aber die Effekte sind kleiner als populäre Zahlen suggerieren. Und der Versuch, sie gezielt zu verstärken, scheint nicht zu funktionieren.

Das ist kein Grund zur Enttäuschung. Es ist eine Einladung zur Nüchternheit. Wir brauchen keine Tricks. Wir brauchen solides Handwerk: gute Befundung, passende Interventionen, klare Kommunikation, ehrliche Zusammenarbeit.

Der Rest ergibt sich von selbst. Oder eben nicht. Aber das liegt dann nicht daran, dass wir zu wenig "Kontext optimiert" haben.

Am Ende bleibt eine einfache Frage: Machen wir gute Therapie? Wenn ja, kümmern sich die Kontexteffekte um sich selbst.


  • Nicht ganz. Placebo bezeichnet eine Scheinbehandlung ohne spezifischen Wirkstoff. Kontexteffekte sind breiter: Sie umfassen alles, was neben der eigentlichen Technik wirkt – Erwartungen, Beziehung, Setting. Jede echte Behandlung hat auch Kontexteffekte.

  • Die Evidenz zeigt nicht, dass bewusste Kontextoptimierung zu besseren Ergebnissen führt. Authentisches, kompetentes Auftreten ist sinnvoll – aber als Grundlage für Vertrauen, nicht als Manipulationsstrategie.

  • Nein, solange du bei der Wahrheit bleibst. Realistische positive Erwartungen sind Teil guter Kommunikation. Problematisch wird es, wenn du Versprechungen machst, die du nicht halten kannst.

  • Ja. Übertrieben negative Informationen können Schmerzen verstärken und Heilung verzögern. Das bedeutet nicht, Risiken zu verschweigen, sondern sie angemessen einzuordnen.

Über den Autor

Dimitrios ist Physiotherapeut in Düsseldorf mit Fokus auf muskuloskelettale Beschwerden. Er behandelt Privatpatienten und Selbstzahler mit Hausbesuchen und teilt sein Wissen auf Instagram (@dimiphysio) und diesem Blog.

Quellen

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  2. Saueressig T, Dunning J, Mourad F, Bliton P, Young I. Comment on "Which portion of physiotherapy treatments' effect is not attributable to the specific effects in people with musculoskeletal pain?" by Ezzatvar et al. J Orthop Sports Phys Ther. 2024;54(12):783-784. https://doi.org/10.2519/jospt.2024.0201

  3. Pedersen JR, Strijkers R, Gerger H, Koes B, Chiarotto A. Clinical improvements due to specific effects and placebo effects in conservative interventions and changes observed with no treatment in randomized controlled trials of patients with chronic nonspecific low back pain: a systematic review and meta-analysis. Pain. 2024;165(6):1217-1232. https://doi.org/10.1097/j.pain.0000000000003151

  4. Saueressig T, Owen PJ, Pedder H, Tagliaferri S, Kaczorowski S, Altrichter A, et al. The importance of context (placebo effects) in conservative interventions for musculoskeletal pain: a systematic review and meta-analysis. Eur J Pain. 2024;28(5):675-704. https://doi.org/10.1002/ejp.2222

  5. Saueressig T, Owen PJ, Pedder H, Arora NK, Simons M, Kaczorowski S, et al. Boosting treatment outcomes via the patient-practitioner relationship, treatment-beliefs or therapeutic setting: a systematic review with meta-analysis of contextual effects in chronic musculoskeletal pain. J Orthop Sports Phys Ther. 2024;54(7):440-456. https://doi.org/10.2519/jospt.2024.12259

  6. Borg F, Gedin F, Franzén E, Grooten WJA. A systematic review and meta-analysis of open label placebo effects in chronic musculoskeletal pain. Sci Rep. 2025;15(1):24007. https://doi.org/10.1038/s41598-025-09415-y

  7. Kleine-Borgmann J, Schmidt K, Hellmann A, Bingel U. Effects of open-label placebo on pain, functional disability, and spine mobility in patients with chronic back pain: a randomized controlled trial. Pain. 2019;160(12):2891-2897. https://doi.org/10.1097/j.pain.0000000000001683

  8. Kleine-Borgmann J, Dietz TN, Schmidt K, Bingel U. No long-term effects after a 3-week open-label placebo treatment for chronic low back pain: a 3-year follow-up of a randomized controlled trial. Pain. 2023;164(3):645-652. https://doi.org/10.1097/j.pain.0000000000002752

  9. Rossettini G, Carlino E, Testa M. Clinical relevance of contextual factors as triggers of placebo and nocebo effects in musculoskeletal pain. BMC Musculoskelet Disord. 2018;19(1):27. https://doi.org/10.1186/s12891-018-1943-8

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